„Hilfe, mein Kind war beim Coach.“
Der Anteil psychischer Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen steigt kontinuierlich. Psychische Erkrankungen sind inzwischen die häufigste Diagnose im Alter von 10 bis 17 Jahren. Depressionen und Essstörungen gehören dabei zu den verbreitetsten psychischen Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen. Sie sind besonders vulnerable Zielgruppen, insbesondere wenn es um Charakterentwicklung und die eigene Identität geht.
Selbstzweifel als Geschäftsmodell – Wie Coaches die psychische Gesundheit unserer Jugend gefährden.
In einer Ära von sozialen Medien, geprägt von YouTube, Instagram, TikTok und Co., werden Kinder und Jugendliche vermehrt von Motivationssprüchen und Coaching-Angeboten überschwemmt. „Sei jung, reich, gutaussehend.“ Das ewige Ziel: Ein glückliches und erfolgreiches Leben. Aber das klingt doch gut, oder? Was sollte man dagegen anbringen können? Schließlich geht es doch darum, dass Menschen geholfen wird, erfolgreicher und glücklicher zu werden. Oder etwa nicht?
Hinter den vermeintlich inspirierenden Slogans und der verlockenden Welt der Persönlichkeitsentwicklung verbirgt sich oft eine bedenkliche Schattenseite, die problematische Strukturen bedient und sogar verschärft.
Das strukturelle Problem liegt schon in der erfolgsversprechenden Zielgruppe.
„Du fühlst dich schlecht? Dann musst du in DICH investieren.“ Dies ist eine der problematischsten Aussagen dieser Coaching-Branche. Coaches, Trainer und Speaker in der Motivationsblase adressieren vor allem jene, die das Gefühl haben, nicht gut genug zu sein – oder positiver formuliert: „… die ambitioniert sind, sich und ihre Persönlichkeit entfalten zu wollen.“
Und durch den ständigen Appell, sich verbessern zu müssen, um erfolgreicher zu werden, wird dieses Gefühl von „Unzulänglichkeit“ nicht nur ausgenutzt, sondern auch noch verstärkt. Coaches schaffen eine Nachfrage, indem sie das Gefühl bedienen und vermitteln, dass ständige Verbesserung notwendig sei, um überhaupt zu Erfolg und Glück gelangen zu können.
Dies erzeugt jedoch in erster Linie „Spannungsgefühle, Druck und Stress“.
Ein Zustand, den unverantwortliche Motivationstrainer als „Motivation“ bezeichnen. Leider ist dies jedoch auch ein Zustand, der sich scheinbar recht gut zu Geld machen lässt. Denn die Coaching-Welt ist ein lukratives Milliarden-Geschäft, das immer weiter wächst. Und bei steigender Anzahl psychischer Erkrankungen bei jungen Social-Media-NutzerInnen ist das auch kein Wunder.
Ob im Fitnessbereich, im Business oder paradoxerweise im Gesundheitsbereich: Botschaften wie „Sei die beste Version von dir selbst“ setzen einen Teufelskreis von toxischem Perfektionismus in Gang. Jugendliche fühlen sich getrieben, noch mehr leisten zu müssen, um den vermeintlichen Erwartungen ihres Umfelds, ihrer Eltern und ihrer Vorbilder gerecht zu werden.
Gelockt werden junge Menschen hierbei gerne mit teuren Autos, durchtrainierten Körpern, finanzieller Unabhängigkeit oder dem Traumjob als Influencer oder als Top-Speaker. Gerne gepaart mit irgendwelchen Tierbildern von Löwen oder Adlern und theatralischer Hintergrundmusik.
Diese Welt ist weniger Ansporn, sondern eher ein Geschäftsmodell.
Der geschaffene Druck und Stress dienen als Basis, um eigene Produkte zu verkaufen – Bücher, Events, Coachings und Ausbildungen (die auch ruhig mal 15.000 – 20.000 Euro kosten dürfen. Schließlich handelt es sich hierbei um rentable Zukunftsinvestitionen. Augenzwinkern.
Viele Menschen sind Jesus gefolgt, doch keiner ist zu Jesus geworden.
Die Jagd nach Zugehörigkeit, Anerkennung, Status und Co. kann zu einem gefährlichen Spiel mit dem Selbstwertgefühl werden. Denn das Streben nach mehr manifestiert das Gefühl von Mangel, sodass Wertschätzung und Dankbarkeit für die Dinge, die bereits existieren, aus dem Fokus verschwinden. Der Vergleich mit perfekten Menschen, idealisierten Körperbildern und scheinbar perfekten Heldengeschichten lässt viele glauben, dass „Durchschnitt zu sein“ ein Mangelzustand wäre, mit dem man sich niemals zufrieden geben dürfte.
Dabei sind die meisten Menschen nun mal durchschnittlich: Das ist Statistik. Interessanterweise wird schon hier genau mit dieser Angst gespielt: Wenn du dich nicht änderst, dann wirst du ein durchschnittliches Leben führen… Willst du dich etwa damit zufriedengeben?… Nein? … Dann gib mir dein Geld, und ich zeige dir den heiligen Gral zur Erleuchtung!
Das Gefühl von „So wie du bist, bist du nicht genug“ schwingt immer wieder im Subtext mit… ob es Aussagen sind wie „Entfalte dein ganzes Potenzial“, „Akzeptiere niemals den Status Quo“, „Habe möglichst hohe Ziele“, „Denke groß“, „Es gibt keinen Plan B“.
Diese Aussagen wirken wie ein toxisches Gift, das in die Psyche junger Menschen eindringt. Denn wenn immer wieder suggeriert wird, dass man nie gut genug ist und ständig nach Verbesserung streben muss – dann ist genau das eine Ursache von ansteigenden psychischen Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen. Leistungsdruck der schwer nach hinten losgeht.
Insbesondere in Kulturen, wo Selbstdisziplin, Kontrolle und Perfektion einen großen Stellenwert haben – z.B. in Japan – ist der Suizid die Haupttodesursache bei Jugendlichen. Wir sprechen hier von Leistungsdruck und sozial-erwünschtem Verhalten, möglichst wie eine Maschine funktionieren zu müssen. Ja, Disziplin kann krankhaft sein.
Der Zwang zur kontinuierlichen Selbstoptimierung und das Unterdrücken von eigenen Bedürfnissen und körperlichen (Warn-)Signalen können zu ernsthaften gesundheitlichen Problemen, einschließlich Essstörungen, führen.
Laut DAK-Präventionsradar empfinden 42% der Kinder und Jugendlichen in Deutschland oft oder sehr oft Stress. Langfristige Betrachtungen in verschiedenen Ländern zeigen insgesamt eine klare Zunahme von Essstörungen. Allein von 2015 bis 2020 hat sich die Anzahl der im Krankenhaus behandelten Betroffenen verdoppelt.
Es wird Zeit, den wachsenden Druck zu hinterfragen, den diese Welt auf die mentale Gesundheit unserer jungen Generation ausübt. Der Weg zum Erfolg sollte nicht von toxischen Motivationssprüchen gepflastert sein, sondern von einem gesunden Gleichgewicht zwischen Herausforderung und Selbstfürsorge.
Was genau steckt eigentlich hinter typischen Motivationssprüchen:
„No Pain, No Gain“
Schmerz als Voraussetzung für Erfolg. Diese Aussage betont den Wert von Anstrengung und Überwindung. Allerdings kann sie toxisch werden, wenn sie dazu führt, dass Menschen ihre Grenzen ignorieren oder sich in einem kontinuierlichen Zustand des Leidens sehen. Es ist wichtig, ein Gleichgewicht zwischen Herausforderung und Selbstfürsorge zu finden.
„Es gibt keinen Plan B.“
Die Idee, dass ein alternativer Plan Schwäche zeigt, kann Druck erzeugen und den Raum für kreative Lösungen einschränken. Menschen sollten ermutigt werden, flexibel zu sein und alternative Wege zu finden, wenn nötig, anstatt starr an einem einzigen Plan festzuhalten.
„Sei niemals zufrieden mit dem, was du hast.“
Diese Aussage kann dazu führen, dass Menschen ihre eigenen Erfolge nicht wertschätzen und ständig nach mehr streben. Eine gesunde Selbstzufriedenheit ist wichtig, um das eigene Wohlbefinden und die psychische Gesundheit zu fördern. Wer glaubt niemals zufrieden sein zu dürfen mit dem was er hat, wird vermutlich niemals zufrieden sein, mit dem was er hat.
„Versuch jeden Tag besser zu sein als am Tag davor.“
Der ständige Wettbewerb mit sich selbst kann zu ungesunden Vergleichen und einem verzerrten Selbstbild führen. Es ist wichtig zu erkennen, dass persönliches Wachstum in unterschiedlichem Tempo erfolgt und Rückschläge normal sind. Der Fokus sollte auf kontinuierlicher Verbesserung statt auf perfekter Leistung liegen.
„Schlafen, kann ich wenn ich alt bin – Schwäche zeigt, wer Pausen braucht.“
Pausen sind wichtig für die physische und mentale Gesundheit. Der Druck, ständig aktiv zu sein, kann zu Erschöpfung und Burnout führen. Selbstpflege und Ruhephasen sind essenziell.
„Erfolg kennt keine Ausreden.“
Während Verantwortung wichtig ist, kann dieser Spruch den Druck auf Menschen erhöhen, ihre persönlichen Herausforderungen zu verbergen. Es ist wichtig, Raum für Authentizität und den Umgang mit Schwierigkeiten zu schaffen.
„Nur die Starken überleben.“
Diese Aussage betont Überlebensfähigkeiten als einzigen Maßstab für Stärke. Es vernachlässigt die Bedeutung von Empathie, Zusammenarbeit und emotionaler Intelligenz als wichtige menschliche Qualitäten.
„Tue, was du liebst, und du wirst nie arbeiten müssen.“
Während die Betonung auf Leidenschaft wichtig ist, kann diese Aussage unrealistische Erwartungen schaffen. Arbeit erfordert oft Anstrengung, und es ist normal, auch schwierige Aufgaben zu bewältigen.
„Wer nicht kämpft, hat schon verloren.“
Diese Aussage unterstreicht einen ständigen Kampf als Voraussetzung für Erfolg. Es ist wichtig zu erkennen, dass nicht alle Herausforderungen als Kämpfe wahrgenommen werden müssen, und es ist in Ordnung, nach alternativen Lösungen zu suchen.
„Ignoriere die Kritiker, folge einfach deinem Weg.“
Während es wichtig ist, nicht jeder Kritik nachzugeben, ist konstruktive Kritik oft wertvoll. Die blinde Ablehnung von Feedback kann zu einem Mangel an Selbstreflexion führen.
„Stillstand ist Rückschritt.“
Während Fortschritt wichtig ist, kann diese Aussage den Druck erzeugen, dass jede Phase der Stagnation als Misserfolg betrachtet wird. Es ist wichtig zu erkennen, dass Ruhephasen und Reflektion ebenfalls entscheidend für persönliches Wachstum sein können.
„Umgibt dich mit deinesgleichen.“
Dieser Rat betont die Bedeutung eines homogenen sozialen Umfelds. Es ist jedoch wichtig zu beachten, dass Vielfalt und unterschiedliche Perspektiven bereichernd sein können. Ein zu enges soziales Netzwerk könnte den Blick auf die Vielfalt menschlicher Erfahrungen beschränken.