„Unsichtbare Ernährungsprofis“
Ernährungsberatung – nicht so wichtig?
#aufschreiernährungsberatung: „Und wieder einmal wird der Beruf des ‚Ernährungsberaters‘ in den Dreck gezogen. Ein großer Aufschrei geht durch die Reihen der Ernährungsfachkräfte.“
Diese Aussage stammt aus einem Artikel aus dem Frühjahr 2018. Etwa fünf Jahre später scheint sich dieser Diskurs zu wiederholen. Im Jahr 2018 hieß es noch: „Berlins Regierender Bürgermeister, Michael Müller, will Arbeitslose als Ernährungsberater beschäftigen. – „Arbeitslose sollen als Ernährungsberater ausgebildet werden“, ganz nach dem Motto: Ernährungsberatung, Müll aufsammeln und Staubsaugen kann ja jeder. Denn eigentlich weiß ja jeder, was gesund ist, oder? Erklären, dass Obst, Gemüse, Vollkorn und Wasser besser sind als Schokolade, Burger und Bier, ist doch einfach.
Aktuell scheint sich dieser Eindruck zu bestätigen. Denn Karl Lauterbach verkündete vor wenigen Tagen folgendes. Bezüglich der Eckpunkte des geplanten Pflegekompetenzgesetzes wurde am 19. Dezember ein Artikel auf Zeit Online veröffentlicht, in dem Pläne geäußert werden, dass Pflegekräfte künftig ebenfalls Ernährungsberatung anbieten können sollen. Auch hier lässt sich erahnen, dass der Beruf der Ernährungsfachkräfte mit ihrer Aufgabe der Ernährungsberatung und -therapie scheinbar nebenbei erledigt und ersetzt werden kann.
Warum sind wir unsichtbar?
Solange der Eindruck besteht, dass Ernährungsberatung sich auf das reine Vermitteln von Informationen fokussiert, die sich in Broschüren nachlesen lassen, verstehe ich gut, warum die Politik auf diesen fragwürdigen Gedanken kommt. Inzwischen hat jede:r Fitnesstrainer:in, Veganer:in und jede:r Koch:in die neuesten Tipps und Tricks parat und bietet Ernährungsberatung an. So jedenfalls die gesellschaftliche Wahrnehmung.
Und als zertifizierter Ernährungsberater und Ernährungstherapeut kann ich selbst diese Wahrnehmung nachvollziehen. Auch ich habe keine Lust mehr, allein das Know-how aus dem Studium zu vermitteln und verdrehe die Augen, wenn wieder jemand Lebensmittel und Nährstoffe in „gut und schlecht“ kategorisiert und frustriert versucht, Menschen zu erklären, wie sie sich ernähren sollen.
Denn wenn es allein um das Einordnen, Anwenden und Vermitteln von Fachwissen geht, dann kann das auch eine KI!
Aber eine gute Ernährungsfachkraft ist längst kein Roboter mehr, der seine Zeit damit verbringt, Zusammenhänge zu Kohlenhydraten, Fetten und Eiweißen zu erklären. Wir begleiten Menschen – emotional, verständnisvoll und psychologisch! – (zumindest sollte dies so sein).
Und genau dieser Aspekt ist kaum jemandem aus der „allgemeinen“ Wahrnehmung bekannt. Gute Fachkräfte stellen keine Regeln auf, schreiben keine Ernährungspläne und heben auch keinen Zeigefinger (und solltest du dich als Fachkraft an diesem Punkt ertappt fühlen, dann hinterfrage bitte deine Arbeitsweise).
Vor allem die Ernährungspsychologie spielt in der Ernährungsberatung und -therapie eine größer werdende Bedeutung. Denn ja, viele Menschen wissen theoretisch schon, was sie essen sollten. Jedoch scheitert es vielmehr an der täglichen Umsetzung im Spannungsfeld zu anderen Bedürfnissen, Prioritäten und Konflikten. Und diese zwischenmenschliche Arbeit ist genau das, was weder eine KI noch eine Fachkraft übernehmen kann, die für diese Arbeit nicht ausreichend ausgebildet ist.
Wer ist verantwortlich für die Sichtbarkeit von Ernährungsfachkräften?
Wer ist verantwortlich für den Ruf der Ernährungsberatung?
Wer ist verantwortlich für die Vorurteile gegenüber diesem Berufsstand?
Natürlich wäre es einfach zu fordern, dass Politiker, Ärzte und Co. unsere Arbeit mehr wertschätzen sollten. Doch die Tatsache, dass es nicht so ist, liegt in erster Linie in unserer Hand. Auch wir tragen hierfür die Verantwortung!
Pain-Points:
Beispielsweise sind ernährungspsychologische Zusammenhänge in der klassischen Ausbildung zur Ernährungsfachkraft oft unterrepräsentiert.
Gesamtgesellschaftlich, mit Blick auf Themen wie Übergewicht, Adipositas und ernährungsmitbedingte Erkrankungen, hat die klassische Wissensvermittlung und Ernährungsbildung der letzten 70 Jahre nicht viel bewirken können – trotz großer Kampagnen und Angebote für Betroffene.
Langfristige Erfolge in der Verhaltensänderung sind leider noch zu selten.
Viele schwarze Schafe äußern Ernährungsempfehlungen trotz fehlender Kenntnisse und haben dennoch große Reichweiten in den Medien.
„Ernährungsberatung“ ist kein geschützter Begriff, sodass jede:r dieses Angebot anbieten kann.
Essen ist für viele Menschen ein emotionales und sensibles Thema. Es existieren unterschiedlichste Ideologien und Meinungen, die in ausufernden Diskussionen nicht auf einen gemeinsamen Konsens kommen.
Und „echte“ zertifizierte Fachkräfte kämpfen in einer bunten und lauten Social-Media-Welt mit seriösen Angeboten und Inhalten um Aufmerksamkeit – fallen jedoch zu wenig auf, da unseriöse Inhalte oft sensationeller, extremer und bunter sind.
Viele Ernährungsfachkräfte bestätigen mir: „Manchmal ist diese Arbeit echt frustrierend.“
Bitte mehr auf unsere Außenwahrnehmung fokussieren – statt sich über diese zu echauffieren.
Würde eine Marketingagentur, die ein tolles Produkt verkauft, die Schuld für ihren Misserfolg auf die minderwertige Konkurrenz schieben?
Würde sie sich ärgern, dass niemand das Produkt wertschätzt?
Würden sie sich beschweren, dass jemand anderes mehr Aufmerksamkeit bekommt?
Ich denke NEIN!
Wir stehen im Zugzwang, die Relevanz unseres Arbeitsbereichs zu verdeutlichen und die Vorteile und Mehrwerte aufzuzeigen.
Wer ein hochwertiges Produkt hat, darf dieses auch entsprechend kommunizieren und verkaufen.
Was ist unser USP?
Wie bekommen wir den Stellenwert unsere Arbeit gut vermittelt?
Was unterscheidet die Qualität unserer Arbeit konkret! von Anderen?
Im Bereich Gesundheit versuchen wir oft, über rationale Argumente, Erfahrung, Zertifikate und Sachlichkeit zu überzeugen.
Das mag möglicherweise altmodisch und nicht zeitgemäß zu sein. Anstatt das Argument zu kommunizieren, dass wir besser und länger ausgebildet wurden und Leitlinien zu unserer Arbeit existieren, sollten wir auch klar und verständlich kommunizieren, welchen Mehrwert wir tatsächlich liefern können.
In einer professionellen Ernährungsberatung geht um die emotionale Unterstützung, das Eingehen auf individuelle Bedürfnisse und das Verständnis für die psychologischen Aspekte der Ernährung.
Wir können Menschen auf ihrem Weg zu einer gesünderen Lebensweise begleiten, nicht nur mit Wissen, sondern vor allem mit Empathie und einer individuellen, auf den Einzelnen abgestimmten Betreuung. Hierauf sollten auch wir in Zukunft mehr Aufmerksamkeit legen… denn die Psychologie hinter dem Essverhalten hat einen Stellenwert, der auch als Mehrwert in unserer Arbeit betrachtet werden kann.
(Auch, damit wir eben nicht einfach durch ein Software-Programm ersetzt werden können).
Lasst uns gemeinsam dafür sorgen, dass die Bedeutung unserer Arbeit in der Gesellschaft angemessen existiert … und dann auch entsprechend als „wertig“ wahrgenommen wird … dann haben wir es hoffentlich auch nicht mehr nötig um Wertschätzung betteln zu müssen.